Annina Seiler, was motiviert Sie, sich täglich für Menschen mit Krebs und ihre Angehörigen einzusetzen?
Die Unterstützung und Begleitung von Menschen mit einer schweren Erkrankung und deren Angehörigen stand stets im Fokus meiner Arbeit als Psychologin im Spital. Leider wird dabei der psychischen Belastung und dem seelischen Leid nach wie vor zu wenig Beachtung geschenkt. Wir können uns nicht vor Schicksalsschlägen schützen. Auch ich musste dies während meiner Ausbildung erfahren. Eine schwere Erkrankung, die Pflege und der Verlust einer nahestehenden Person verändern das Leben für immer. Sie wirken sich auch auf die Arbeit aus. Diese Erfahrung war neu für mich und hat meinen Blick auf das Leben stark verändert. Die Unterstützung von Angehörigen ist mir deshalb ein besonderes Anliegen.
Wie kann sich Trauer nach einem Verlust zeigen?
Trauer ist eine schmerzhafte Erfahrung. Sie kann intensive Gefühle wie Sehnsucht, Wut, Verbitterung, Schuldgefühle, Hoffnungslosigkeit oder Leere auslösen und Monate bis Jahre andauern. Die Trauer verändert jedoch nicht nur die psychische Verfassung. Sie wirkt sich auch auf die körperliche Gesundheit aus. Sie schwächt das Immunsystem und kann das Risiko für die Entstehung von Erkrankungen, insbesondere Herzerkrankungen, erhöhen. Vor allem in der akuten Phase der Trauer berichten Betroffene von Schmerzen oder Engegefühl in der Brust, Atembeschwerden, Übelkeit, Schlaflosigkeit oder Appetitlosigkeit. Zudem leiden sie häufig unter Vergesslichkeit oder Konzentrationsschwierigkeiten. Es können auch verstörende Träume auftreten. Aus evolutionärer Sicht sind soziale Bindungen essenziell für das Überleben. Jede Bedrohung dieser sozialen Sicherheit löst eine komplexe Stress- und Immunreaktion aus. Diese erhöht das Risiko für Entzündungen, Schmerzen sowie für psychische oder körperliche Erkrankungen. Der Verlust eines geliebten Menschen beendet diese schützende Bindung. Trauer ist die neurobiologische Reaktion auf den Verlust einer sozialen Bindung. Die Beteiligung des Bindungssystems bei der Trauerverarbeitung lässt sich nachweisen: So weisen Trauernde erhöhte Oxytocin-Werte auf, also mehr Bindungshormone. Zudem sind bei Trauer ähnliche Gehirnareale aktiv wie bei körperlichem Schmerz.
Kann die Trauer um einen geliebten Menschen auch zu einem vorzeitigen Tod der Hinterbliebenen führen?
Es gibt tatsächlich grosse Studien, die den Zusammenhang zwischen einem nahestehenden Verlust und einem früheren Tod eindrücklich aufzeigen. Demnach besteht besonders innerhalb der ersten sechs Monate nach dem Verlust ein 20- bis 40-fach erhöhtes Sterberisiko, wobei Männer stärker betroffen sind. Dieses Phänomen wird auch als «Widowhood-Effect» oder Sterben durch das «Broken Heart»-Syndrom bezeichnet und lässt sich auch bei Säugetieren beobachten.