Wenn Vorfreude und Ängste nah beieinanderliegen
Wenn Vorfreude und Ängste nah beieinanderliegen
Wir erwarten ein Kind! Doch die vorgeburtlichen Tests zeigten, dass neben dem Kind ein bösartiger Tumor mitwuchs. Abtreibung oder Chemotherapie? Schwierige Zeiten standen der schwangeren Frau bevor.
Zwölf sorglose Wochen vergehen, bis die junge Frau die gängigen Schwangerschaftstests macht. Dann ruft die Frauenärztin an und meint, dass etwas nicht stimme: «Frau Bartholdi, ihr Kind könnte eine seltene Trisomie haben.» Für die 25-Jährige bricht die Welt zusammen.
Warten auf eine Diagnose
Fabienne Bartholdi möchte nicht wissen, ob sie das Kind während der Schwangerschaft verliert oder ob es mit Fehlbildungen auf die Welt kommt. Nach langen Diskussionen ermutigt ihr Mann sie, einen weiteren Test zu machen. Fabienne Bartholdi überwindet sich und macht einen Bluttest. An einem gemütlichen Sonntagmorgen meldet sich die Frauenärztin. Sie sollen noch am selben Abend ins Spital fahren. Fabienne Bartholdi weint den ganzen Tag und malt sich die schlimmsten Szenarien aus. Als sie im Spital um den weissen Tisch sitzen, teilt ihnen die Ärztin mit, dass im Blut Bestandteile gefunden wurden, die darauf hinweisen, dass Fabienne Bartholdi ein Lymphom haben könnte. «Frau Bartholdi, es besteht der Verdacht auf Lymphdrüsenkrebs.» «Ich habe nur ‹Krebs› verstanden. Wenn man das Wort zum ersten Mal hört, denkt man an den Tod. Ich dachte, nun ist es vorbei», erinnert sie sich. Sofort kommt der Gedanke an das Kind: «Ist es gesund?» Die Ärztin versichert ihr, dass mit dem Ungeborenen alles in Ordnung sei und der Verdacht auf eine Trisomie nicht mehr bestehe.
Schwierige Entscheide in kurzer Zeit
Der Onkologe untersucht sie und entnimmt Gewebe eines verdächtig geschwollenen Lymphknotens. Diagnose: Hodgkin-Lymphom. Bei einem Hodgkin Lymphom vermehren sich unreife weisse Blutkörperchen rasch und unkontrolliert. Sie befallen Organe wie beispielsweise die Lymphknoten oder die Milz. Bei Fabienne Bartholdi sind bereits mehrere Regionen im Oberkörper befallen, es gilt zu handeln. Doch wie geht man ihren Krebs während der Schwangerschaft an? Muss sie eine Chemotherapie starten, obwohl man vermutet, dass dies dem Kind schaden würde? Oder kann sie die Chemotherapie bis nach der Geburt des Kindes hinauszögern? Onkologen und Gynäkologen beraten sich und kommen zusammen zum Schluss, dass Fabienne Bartholdi es wagen kann, das Kind trotz des Krebses auszutragen. Unmittelbar nach der Geburt soll sie sich einer Chemotherapie unterziehen.
Schwangerschaft und Krebs
Fabienne Bartholdi begibt sich regelmässig zur Kontrolle bei der Frauenärztin und beim Onkologen. Sie probiert, ihre Schwangerschaft zu geniessen, so gut es geht. Gleichzeitig bereiten sich Fabienne Bartholdi und ihr Mann auf die Zeit nach der Geburt vor. Und zwar anders, als dies wohl die meisten werdenden Eltern tun, denn sie kontaktieren die Krebsliga Aargau. Die Beraterin geht mit ihnen zusammen alle Anlaufstellen durch, die sie vielleicht in Anspruch nehmen müssen. Am meisten besorgt ist das Paar um die Betreuung des Bébés, wenn der Vater arbeiten muss, Fabienne Bartholdi die Chemotherapie beginnt und weitere Familienmitglieder sie nicht unterstützen können. Die Krebsliga vermittelt ihnen Kontakte, die ihnen zusichern, sich während der schwierigsten Zeit um das Baby zu kümmern.
Achterbahn der Gefühle
Die Geburt ihrer Tochter ist schmerzhaft, aber sie verläuft ohne Komplikationen. Fabienne Bartholdi kann das Kind auf natürlichem Weg gebären und ist wahnsinnig stolz, dass sie das trotz des Krebses schafft. Bald darauf startet Fabienne Bartholdi mit der Chemotherapie. Weinend sitzt sie auf dem harten Stuhl in der onkologischen Praxis. Sie hat Angst. Nach den ersten Wochen Chemo fallen der jungen Frau ihre kräftigen dunkelblonden Haare aus. Unter der Dusche hält sie die Büschel in der Hand und schluchzt. Später verlässt sie die Kraft und sie liegt während Wochen daheim herum. Ihre Muskeln sind zu schlaff, um die kleine Tochter hochzuheben. Sie macht sich grosse Vorwürfe, unfähig zu sein, sich um ihr Kind zu kümmern. Zudem wird das Haushaltsbudget knapp, Rechnungen flattern unablässig ins Haus. Die zusätzlichen Ausgaben für den Selbstbehalt, den die Krankenkasse in Rechnung stellt, die Fahrten zu Ärzten und die Parkgebühren im Spital kann die Familie kaum stemmen.
«Man schafft es nur mit Hilfe»
Fabienne Bartholdi und ihr Mann kontaktieren erneut die Krebsliga Aargau. Sie schätzen es zu wissen, dass deren Fachleute immer erreichbar sind. Auf unkomplizierte Art und Weise erhalten sie einen finanziellen Zustupf, damit sie nicht in die Schuldenfalle geraten. Eine weitere grosse Entlastung während der Behandlungszeit ist die tatkräftige Schwiegermutter. Sie erlebt, wie ihr Kind zum ersten Mal lacht, zum ersten Mal eine Rassel in der Hand hält und sitzen lernt. Dafür ist sie unendlich dankbar.
Heute denkt Fabienne Bartholdi, dass sie in dieser schwierigen Zeit nur genügend Kraft aufbringen konnte dank ihrer Familie und all den Menschen, die an ihrer Seite waren. Sie freut sich über ihre wunderbare Tochter, der es gut geht und die schon so viel erlebt hat. Sie ist stolz auf die Beziehung zu ihrem Mann und dass sie diesen holprigen Weg mit allen Hochs und Tiefs zusammen gegangen sind. Vor dem Krebs hatte Fabienne Bartholdi fixe Vorstellungen, wie sie ihr Leben gestalten wollte, Abweichungen mochte sie nicht. Heute ist sie gelassener: «Ich mache mir keinen Stress mehr.» Sie lächelt. «Wir nehmen das Leben so, wie es kommt, und geniessen jeden Moment, den wir gemeinsam erleben.»
«aspect», Juli 2020
Betroffene, Angehörige, weitere Interessierte und Fachpersonen können den Dienst unter der Woche per Telefon, Mail, Chat oder Videotelefonie von 10 Uhr bis 18 Uhr erreichen.