«Die Idee vom guten und hilfreichen Fieber ist zwar in der Bevölkerung weit verbreitet. Aber unsere Daten lassen keine derartigen Schlüsse zu», sagt Prof. Roland Ammann. Der Kinderkrebsspezialist leitet am Inselspital Bern eine Forschungsgruppe.
Vor einigen Jahren haben der Arzt und sein Team eine klinische Studie entwickelt, die von der Krebsliga Schweiz finanziell gefördert und an sechs hiesigen Kinderkrebszentren durchgeführt wurde. Die zentrale Frage: Muss ein Kind wie bisher bereits mit einer Körpertemperatur von 38,5 Grad Celsius ins Spital oder erst ab 39 Grad Celsius?
Infekte als Notfall
Viele krebskranke Kinder und Jugendliche erhalten Chemotherapeutika. Diese Medikamente töten nicht nur Krebszellen, sondern auch alle anderen sich schnell teilenden Zellen im Körper. Dazu gehören die Blutstammzellen, die auch für die Herstellung von Abwehrzellen verantwortlich sind. Unter der Chemotherapie stellt sich deshalb ein vorübergehender Mangel an Abwehrzellen ein, der in der Medizin als Neutropenie bezeichnet wird.
In diesem immungeschwächten Zustand kann ein bakterieller Infekt rasch ausser Kontrolle geraten – und lebensbedrohlich werden. Die Ärzteschaft hat deshalb in den letzten Jahrzehnten gelernt, ihre jungen Patientinnen und Patienten schon bei den ersten vermuteten Anzeichen eines solchen Infekts notfallmässig ins Spital einzuberufen. Und sie mit Breitbandantibiotika zu behandeln, sobald die Körpertemperatur eine definierte Grenze überschreitet. Tatsächlich ist die Sterblichkeitsrate aufgrund von solchen Infekten mit diesem vorsichtigen Vorgehen auf unter ein Prozent gesunken.
Kinder werden überbehandelt
Allerdings zeigen die Laboranalysen, deren Resultate meist einige Tage nach Beginn der Antibiotikabehandlung eintreffen, dass nur in einem von vier Fällen ein bakterieller Infekt vorliegt. «Die grosse Mehrheit unserer Patientinnen und Patienten wird überbehandelt», sagt Kinderkrebsspezialist Roland Ammann. Ungefähr die Hälfte aller Fieberepisoden sei auf virale Infektionen zurückzuführen, die auch ohne Antibiotika meistens nach einigen Tagen abklingen würden, erklärt er.
Um zu untersuchen, ob sich der Einsatz dieser Medikamente verringern lässt und unnötige Spitaleintritte vermeiden lassen – ohne das Leben der jungen Patientinnen und Patienten aufs Spiel zu setzen, hat Ammann mit seinem Team eine klinische Studie entwickelt.
Weniger lang im Spital
Insgesamt haben 269 krebskranke Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 1 und 17 Jahren an der Studie teilgenommen. Die Resultate waren schon in den beiden Zwischenanalysen so klar, dass das Team um Ammann beschloss, die Studie frühzeitig abzubrechen. Die Resultate veröffentlichten die Forschenden in der angesehenen Fachzeitschrift «The Lancet Child & Adolescent Health».
Was haben sie herausgefunden? Die Resultate zeigen einerseits, dass die höhere Fiebergrenze sicher ist. Dass es also aufgrund der Verschiebung der Fiebergrenze bei den jungen Krebsbetroffenen nicht häufiger zu einer gefürchteten bakteriellen Blutvergiftung gekommen ist.
Andererseits zeigten die Resultate, dass sich die Spitaleintritte dank der höheren Fiebergrenze um 17 Prozent verringern lassen. Auf den einzelnen Patienten oder die einzelne Patientin heruntergebrochen ergibt das im Schnitt nur zwölf statt 18 Tage im Spital für jedes Jahr Chemotherapie. «Eine knappe Woche mehr daheim macht für Familien mit krebskranken Kindern einen spürbaren Unterschied», sagt Ammann.
Umdenken fällt schwer
Hochgerechnet auf die ganze Schweiz ergeben diese Zahlen eine jährliche Einsparung von 1200 Bettenbelegungen, die etwa 2,4 Millionen Franken kosten. «Für die Schweiz und für Länder mit vergleichbaren Verhältnissen kann 39,0 Grad Celsius als evidenzbasierte Fiebergrenze in der pädiatrischen Onkologie empfohlen werden», halten die Forschenden um Ammann in ihrem Fachbeitrag unmissverständlich fest.
Ein Umdenken fällt schwer, umso mehr, als es – vor allem zu Beginn – starke Nerven und beträchtlichen Mut erfordert. Die Fiebergrenze bei Neutropenie habe sich in der Schweiz deshalb noch nicht verschoben, aktuell werde die Diskussion vor allem in Australien weitergeführt, meint Ammann. Vielleicht helfen die Resultate, die dort erzielt werden, in den nächsten Jahren auch mehr Fachleute in der Schweiz von der neuen Fiebergrenze zu überzeugen. «Wer nicht nur Arbeitsabläufe, sondern auch die Denkweise in der Medizin verändern will, braucht einen langen Atem», sagt Ammann.
Text: Ori Schipper, Bearbeitung: Danica Gröhlich, Bild (gross): Valérie Chételat